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Text von Gennaro Ghirardelli
Aus mehr oder weniger losen Bilder- und Textbögen haben wir ein Bild des Stadtviertels Vasto in Neapel zusammengesetzt. Alles, was hier gezeigt wird, sind Außenansichten des Viertels und ist aus der unmittelbaren Beobachtung abgeleitet. Die Fotografien orientieren sich am ästhetischen Eindruck, an Sichtachsen, Fassaden und Fronten, im Einzelnen an Hauswänden, Ladenfronten, Plätzen, Straßenkreuzungen, Ecksituationen. Wir haben für diese Ausstellung weitergehende Recherchen nur da betrieben, wo unsere Vermutungen und Behauptungen zu historischen Zuständen im Vasto wenigstens einer Überprüfung bedurften.
Die Synthese von Texten und Bildern ist Verdichtung zu einem Gesamtbild, das dem Betrachter, der mit der Landschaft des Viertels nicht vertraut ist, eigene Einblicke eröffnet. Auf diese Weise kann Vasto eine neue, von der Ansicht der Autoren abgelöste Bedeutung erlangen.
Vasto, ein weites Feld
Nea Polis: Vasto in seinen Grenzen. Auf Spurensuche
Zwei Vasto in einem
Im Weichbild des Vasto: Markt in der Via Ferrara
Ein täglicher kleiner Tod
Haus, Hof und Heilige
Süß
Der Vasto, seine Grenzen und die Eisenbahn
Die Russen kommen
Das Erhabene und das Lächerliche
Kontinuum
Streifzüge
Käme einer von Alexandria nach Neapel, könnte er sich wie zu Hause fühlen. Kommt jemand aber aus Deutschland über Rom nach Neapel, fühlt er sich fast wie in Alexandria. In keiner anderen Metropole Europas ist die historische Kontinuität des Mittelmeerraumes so präsent wie in Neapel. Das alte Vorurteil derer, die aus dem Norden kommen, daß in Neapel der Orient und Afrika beginne, ist nicht so abwegig. Selbst die Zuwanderer aus dem Nahen und Ferneren Osten und die Afrikaner scheinen es zu pflegen. Neapel ist bei ihnen beliebt, offenbar nicht nur, weil es vergleichsweise leicht zu erreichen ist. Neapel gehört, im Unterschied zu Marseille, dem anderen Anlaufhafen, atmosphärisch zur südlichen Hälfte der mediterranen Welt.
Wir aber haben uns in Neapel von einem Viertel verführen lassen, dessen städtisches Erscheinungsbild kaum etwas von dieser mediterranen Anziehungskraft besitzt. Dennoch ist ein Teil davon auch Betätigungsfeld von Afrikanern und Asiaten. Es handelt sich um das Gebiet, das nördlich an den Hauptbahnhof der Stadt, der Stazione Centrale, und die Piazza Garibaldi anschließt. Warum wir auf dieses Viertel verfielen, dafür können wir heute mehrere Gründe angeben. Welche die ausschlaggebenden waren, ist schon schwieriger zu beantworten. Vielleicht spielte der Name des Viertels eine Rolle: "Vasto". Der Name ist vielsagend, bedeutet "ausgedehnt", "weit". Dieses Viertel wurde tatsächlich Ende des 19. Jahrhunderts am damaligen Ostrand der Stadt Richtung Poggioreale in ein ehemaliges Sumpfgebiet hineingebaut.
Eines ist sicher: Wir wollten dem gängigen Neapel-Klischee entgehen, jenem Touristenbild, das sich aus alten engen Gassen, darüber gespannten Wäscheleinen, Santa Lucia und San Gennaro, Capri, Ischia, Pozzuoli, Sonne, Diebstahl und Pizza zusammensetzt. Das von uns gewählte Viertel paßt da nicht hinein. Vasto ist nicht typisch neapolitanisch, wie es das Klischee Neapel will. Und dennoch ist es ebenso Neapel wie sein Klischee, nur wirklicher, so freundlich laut und extravertiert wie indolent. Ein munteres Vorurteil Goethes lautet: "Neapel selbst kündigt sich froh, frei und lebhaft an, unzählige Menschen rennen durcheinander, der König ist auf der Jagd, die Königin guter Hoffnung, und so kann's nicht besser gehen."
Vasto ist ein Neapel, das überall Neapel sein könnte, in New York, Buenos Aires oder sonstwo, aber eben auch in Neapel. Es ist unverkennbar neapolitanisch, enthält sozusagen eine internationale Napolitanità, eine Neapolitanität, die übertragbar, verrückbar, vielleicht moderner ist. Aber es handelt sich dabei mehr um eine Modernität des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als um die Modernität der Gegenwart, trotz aller zeitgenössischen Ingredienzien.
Der Vasto hat etwas Paradoxes an sich: Er ist untypisch typisch neapolitanisch und er liegt auffällig unauffällig im Stadtgefüge oder im Gefüge seiner Randlage. Die Dekonstruktion Neapels hinterläßt Vasto. "Neapel" ist stets auch der Diskurs über Neapel, das Vorurteil und das Klischee, das Überlieferte und die Erfahrung, während Vasto das Substrat Neapels ist: Das, was nach Abzug aller überlieferter Vorstellungen von Neapel - oder an "Neapolitanität" - übrigbleibt.
Vasto ist eine nea polis, eine "Neustadt", ein Stadtviertel der Gründerzeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts für eine selbstbewußt gewordene Arbeiterklasse und den unteren Mittelstand, zu dem Ladenbesitzer, Inhaber von mechanisierten Kleinbetrieben, kleinere und mittlere Staatsbeamte, womöglich in Verbindung mit der Eisenbahn, gehört haben.
Vasto ist Teil des Verwaltungsbezirks Vicaria, der sich in west-östlicher Ausdehnung von der Porta Capuana bis über den Friedhof von Poggioreale, den Cimitero Monumentale, hinaus erstreckt. Im Grundriß bildet der Vasto die Form eines Trapezes von ungefähr 800 Meter west-östlicher Länge, 300 Meter nord-südlicher Breite entlang dem Corso Giuseppe Garibaldi im Westen und 500 Meter auf der Via Giovanni Porzio im Osten. Mitunter wird das Viertel, unabhängig vom Verwaltungsbezirk, auch mit Quartiere Vicaria bezeichnet. Wir ziehen den auch bei Neapolitanern gebräuchlichen Namen Vasto vor.
Als das Auffälligste an diesem unauffälligen Viertel erschien uns zuerst seine rechtwinklige Straßenanlage. Zwar weisen auch andere, ältere Viertel Neapels eine orthogonale Blockbebauung auf, wie zum Beispiel das sogenannte spanische Viertel, dort freilich weit feinmaschiger mit engen Gassen und wesentlich kleineren Gebäuden. Auch das historische Zentrum Neapels hat ein weitgehend rechtwinkliges Wegenetz, ebenfalls mit langgezogenen engen Gassen und dichter Bausubstanz. Die Anlage im Vasto unterscheidet sich davon deutlich. Auf den ersten Blick ist die modernere Planung erkennbar: Die Straßen sind relativ breit, die vier- bis fünfgeschossigen Wohnhäuser mit Innenhöfen stattlich. Hier kündigt sich bereits die einheitlich geplante Blockbebauung mit begrenzt variierten städtischen Mehrfamilienhäusern an, wie sie im 20. Jahrhundert zum international gängigen Typus wurden. Der Vasto verweigert sich sogar den Wäscheleinen über den Straßen. Natürlich wird die Wäsche im Freien aufgehängt, auf Balkonen, über die diese Häuser verfügen, und in den Innenhöfen, die ausreichend Raum dafür bieten. Aber es gibt keine Wäscheleinen über die Straßen, vielleicht, weil diese zu breit sind. Möglicherweise wurden zur Zeit der Planung des Viertels mit Absicht keine Einrichtungen dafür geschaffen, weil man Wäscheleinen über den Straßen für rückständig hielt, und man wollte doch angemessen fortschrittlich sein.
Die großzügige, ersichtlich geplante Anlage des Viertels jedenfalls weckte unsere Aufmerksamkeit und ließ uns erst einmal an andere Städte denken. Hat der Spürhund aber Witterung aufgenommen, läßt er nicht locker, und die Indizien verdichteten sich: Die Toponymik des Viertels, die Benennung der Straßen und Plätze, ist von einem nationalen Pathos getragen, wie dies für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerorts in italienischen Städten charakteristisch ist. 1870 wurde die Einigung Italiens abgeschlossen, Nord-, Mittel- und Süditalien den fremden Mächten und der Kurie entrissen. Von der Südflanke der Alpen bis nach Sizilien entstand aus der Bewegung des Risorgimento ein moderner Nationalstaat, das Vereinigte Königreich Italien. In diese Zeit, 1861 bis 1870, fällt auch der Bau des Hauptbahnhofs von Neapel, der Stazione Centrale. Der Bahnhofsplatz erhielt sinnigerweise und passend den Namen "Piazza dell'Unità Italiana", sein südlicher Abschluß "Via Libertà". Heute heißt er "Piazza Giuseppe Garibaldi", die Einheit wurde dem lokaleren süditalienischen Freiheitshelden geopfert, dessen Denkmal ungerührt von den Abgasschwaden über den zu groß geratenen, unstrukturierten Platz herrscht, eine asphaltierte Brache, die durch den Rückbau des neuen Bahnhofs entstanden ist.
Im 19. Jahrhundert war die Eisenbahn das moderne nationale Verkehrsystem schlechthin, ihr Netz verband die Regionen und Städte des jungen Nationalstaats. Die großen städtischen Bahnhöfe wurden zu Tempeln des Fortschritts, zum Genius loci der Moderne. Dort und in ihrer Umgebung herrschte der Geist der neuen Zeit, und der Geist war national. Diesem Geist entsprechend wurden die Straßen des kurze Zeit später geplanten und gebauten Viertels Vasto durchweg, von Norden nach Süden und von Westen nach Osten, mit Ortsnamen des nun - ebenfalls von Norden nach Süden und von Westen nach Osten - vereinigten Italien versehen, bis auf eine winzige Ausnahme, und die heißt: Vico Ferrovia. Diese kleine Verbindungsstraße ist aber erst später, 1920, nach Abbruch einer Gießerei entstanden, die dort dem neuen orthogonalen Planungswillen im Wege war.
Von der Piazza Garibaldi über die Via Nazionale bis zur Piazza Nazionale, von der Via Milano bis zur Piazza Salerno wurde ein Straßennetz des vereinigten Italien auf kleinem Raum geknüpft. Die Textur dieser Namen von Straßen und Plätzen kündet vom Selbstbehauptungswillen und Stolz einer damals noch jungen Nation.
Hüttner schreibt: "Durch das rechtwinklige Grundraster kann man das Viertel systematisch ablaufen. Man staunt über neue Entdeckungen im vermeintlich Bekannten. Man denkt, man hat schon alles gesehen, dennoch gibt es immer wieder eine Ecke, die man noch nicht kennt. Ich vergleiche das mit meiner Erfahrung, bei Kartierungsarbeiten im Wald mit Kompaß nach Quadratraster zu gehen, und weiß, daß man mit dieser Art der Orientierung sehr vielfältig und umfassend sieht. Das geht so weit, daß einem eine relativ kleine Fläche größer vorkommt, als sie tatsächlich ist."
Vasto kam uns nach einer Weile recht groß vor, er enthielt eine ganze Welt, die täglich neue Ansichten und Einsichten bot. Nach längerer Beobachtung und mehrfacher Begehung stellten wir zum Beispiel fest, daß das Gebiet heute, trotz seiner ursprünglich einheitlichen Bebauung, in zwei Teile zerfällt: In einen westlichen Vasto, nördlich der Piazza Garibaldi, und in den östlichen, nördlich der Eisenbahnanlagen, zwischen dem Corso Novara und der Via Giovanni Porzio. Die Zweiteilung des Viertels ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen, die zum Teil hausgemacht neapolitanisch sind, zum anderen auf äußere Einflüsse verweisen. Jüngeren Datums sind sie fast alle.
Ausschlaggebend war wohl der Ausbau des Corso Novara zu einer nord-südlich mitten durch den Vasto auf den neuen Bahnhof zulaufenden Hauptverkehrsachse, der den an die Innenstadt anschließenden westlichen Teil optisch wie auch verkehrstechnisch vom östlichen abtrennte. Heute könnte man daher von einem inneren und einem äußeren Vasto sprechen. Der innere, zwischen Corso Garibaldi und Corso Novara, wirkt dichter, was nicht von der Größe der Gebäude oder der Breite der Straßen herrührt, sondern daher, daß eine Ladenfront auf die nächste folgt und dadurch die großen Eingänge zu den Innenhöfen fehlen, wie sie im östlichen, äußeren Vasto typisch sind. Es handelt sich dabei großenteils um nachträgliche Eingriffe und Veränderungen. Anspruchsvollere Geschäfte gibt es in diesem Teil fast nur noch in der baumbestandenen Via Firenze unmittelbar von der Piazza Principe Umberto nach Osten. In den Seitenstraßen finden sich Läden, die nicht auf Laufkundschaft angewiesen sind, sowie die Läden und Warenlager, von denen aus die fliegenden afrikanischen und asiatischen Händler an der Piazza Garibaldi und in den umliegenden Straßenzügen ausgerüstet werden. Im Grunde wurde hier eine Handelsform in moderner, modifizierter Form wiederaufgenommen, die im Mittelmeerraum eine lange Tradition hatte, erweitert um Vietnamesen, Tamilen, Inder, Pakistanis, Ost- und Westafrikaner usw. - nur eben nicht mehr als Tradition, sondern als Phänomen einer globalen Migration.
Daß dieses Gebiet einen Verfallsprozeß durchläuft, wird im Vergleich mit dem äußeren Vasto deutlich, der mit seiner Blockbebauung gleichen Typs großzügiger und offener anmutet. Dieser Eindruck verdankt sich unter anderem der Abwechslung von Ladenfronten und Hauseingängen in den Fassaden der mehrstöckigen Wohnhäuser. Als Schmuddelecke des gesamten Viertels stellt sich der nordwestliche Bereich des inneren Vasto vor: Mit geschwärzten Hauswänden (vermutlich von abgefackelten Mülltonnen), die Häuser heruntergekommen, die Straßen denkbar vernachlässigt, zeigt diese Ecke deutliche Spuren eines langjährigen Zerfalls. Dieser Zustand mag allerdings auch darauf zurückzuführen sein, daß die Zeile entlang der Via Casanova zwischen Corso Garibaldi und Corso Novara nie eine der Planung des Viertels angemessene Gestaltung erfuhr. Auf die Rückfront dieser Zeile führen vom Vasto her nur Sackgassen. Es gibt in diesem Abschnitt keinen einzigen Durchstich auf die Via Casanova. Die verlotterte Randbebauung der Via Casanova steht demzufolge mit dem Rücken zum Vasto, eine Konstellation, die der Ecke den düsteren und verkommenen Anstrich gibt. Und ausgerechnet hier befindet sich die 1890 erbaute Kirche mit dem schönen Namen "Chiesa del Buon Consiglio al Vasto". Hier wäre guter Rat für den Vasto, weiß Gott, teuer.
Der Zustand des inneren Vasto wirkt sich auch auf die subjektive Wahrnehmung des Besuchers aus. Hüttner erinnert sich: "Weil dort alles mehr heruntergekommen ist, wird es auch schwieriger, sich Einzelheiten einzuprägen, erinnerte Orte, Geschäfte, Innenhöfe wiederzufinden." Ähnliches schlägt sich in der Empfindung der Farben nieder: Der innere Vasto wirkt dunkel, der äußere lichter, gelb und helles Rot, in manchen Bereichen grau-blau. Im äußeren wurden in jüngster Zeit Häuser renoviert oder zumindest die Fassaden erneuert. Die Tendenz einer Gefährdung der Substanz ist im äußeren Vasto eigentlich nur dort zu erkennen, wo er auf das moderne, gigantische Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum (Centro Direzionale) stößt.
Letztlich könnte man sogar sagen: Omnis Vastus est divisus in partes tres (der gesamte Vasto ist in drei Teile geteilt), nämlich in den inneren, den äußeren Vasto und seine Ränder.
In der Via Ferrara, im Abschnitt zwischen dem Corso Novara und der Via Nazionale, findet täglich, auch sonntags, ein Markt statt. In der Mitte der Straße werden jeden Morgen gegen acht Uhr Marktstände aufgebaut, von denen einige zu den links und rechts die Straße säumenden Geschäften gehören. Das Erwachen das Marktes geschieht allmählich, ohne Hektik und lautes Marktgeschrei. Hüttner verfolgte den Aufbau und bemerkte dazu: "Der Markt wird mit Ruhe, aber zügig und sehr schön aufgebaut, und es gibt wirklich gute Sachen dort." Es ist kein Markt, dessen Atmosphäre das ganze Viertel beherrscht oder der über die Grenzen des Viertels hinaus Bedeutung hat. Dafür ist er zu klein und für die Großstadt im Viertel Vasto nicht zentral genug gelegen. Es gibt größere und vor allem umtriebigere Märkte in Neapel. Aber möglicherweise ist er ein Geheimtip, denn das Angebot ist äußerst reichhaltig und enthält alle Produkte des täglichen Bedarfs. Insbesondere die Lebensmittelstände führen ein Sortiment gehobener Qualität. Zusammen mit den flankierenden Läden fallen dort neben Obst und Gemüse ein überdurchschnittlich gutes Angebot an Fleisch, Fisch, Geflügel und Delikatessen auf. Es ist dies allerdings auch kennzeichnend für die Lebensmittelgeschäfte im gesamten Viertel: Hier wird ein Käuferpublikum der breiteren Mittelschicht angesprochen, das Qualität verlangt und auch beurteilen kann. Der kritische, wählerische Blick der süditalienischen Marktbesucher auf die ausgestellten Waren und ihr entschlossener Zugriff auf das richtige Produkt im richtigen Zustand, läßt Schlüsse auf die Speisen zu, die in den Häusern dieser Käufer auf den Tisch kommen.
Der Markt und das im Inneren des Vasto konzentrierte Angebot an besseren Lebensmittelgeschäften ist traditionell typisch für die Versorgung solcher Wohnviertel. Sie bieten eine differenziertere Auswahl und dies innerhalb des Viertels, nicht in Randlage oder gar außerhalb, in der Hand eines Monopolisten mit vereinheitlichtem Sortiment. Die Bewohner haben die Möglichkeit, um die Ecke einzukaufen, ohne zu langen Wegen gezwungen zu werden, und die Produkte bei verschiedenen Händlern vergleichen zu können. Der einzige Supermarkt einer großen Kette findet sich tatsächlich erst am nordöstlichen Rand des Viertels an der Ausfallstraße nach Poggioreale. Er scheint keinen Einfluß auf den Markt und die Geschäfte innerhalb des Vasto zu haben.
Auch die Geschäfte auf der Nordseite des Corso Meridionale, gegenüber einer architektonisch wüsten Zeile aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die von Westen nach Osten die Gleisanlagen des Bahnhofs abschließt, unterscheiden sich deutlich von den Elektronikramschbuden, die ganz in der Nähe das Bild an der Nordseite der Piazza Garibaldi beherrschen. Obwohl der Corso Meridionale heute kaum noch auf eine regelmäßige Laufkundschaft zählen kann, haben sich hier Juweliere und Uhrengeschäfte neben Läden für Pralinen und Feingebäck sowie einige Hotels mittlerer bis gehobener Kategorie gehalten. Selbst die Autowerkstätten in dieser Straße wollen sich distinguiert geben und sich entschieden von den Blecheklopfern und Motorenquälern absetzen, die in den weniger ansehnlichen Seitenstraßen allenthalben unter den Karossen liegen.
Überhaupt scheint sich im Herzen des Vasto bei aller Durchlässigkeit der städtisch-baulichen Struktur, die charakteristisch ist für die urbane Anlage des angehenden 20. Jahrhunderts, auch im kommerziellen Sektor eine "Binnenkohäsion" zu behaupten. Dazu gehört, daß die Aktivitäten der fliegenden afrikanischen und asiatischen Händler mit zunehmender Entfernung vom Bahnhof zum kommerziellen Zentrum des Vasto um die Via Ferrara deutlich abnehmen, obwohl die Entfernung gering ist und sie die Szene am Bahnhof, an der Piazza Garibaldi und zum Teil im westlichen Vasto beherrschen. Es macht den Eindruck, als hätten sich gewisse Abgrenzungen durchgesetzt. Auch die Russen, die vom Sonntagsmarkt von Poggioreale her über den Centro Direzionale zum Bahnhof kommen, haben mit dem Binnenleben des Vasto nichts zu tun. Sie ziehen mit ihren Plastiktüten am Rande vorbei und werden im Bahnhofareal vom multikulturellen Ambiente absorbiert. Sie lösen sich darin gewissermaßen auf.
Um 15 Uhr geht in der Via Ferrara der tägliche Straßenmarkt zu Ende. Die Stände in der Mitte der Straße werden abgebaut, die Waren in die Lieferwagen oder Geschäfte geräumt, der Strom der Besucher verläuft sich nach und nach in die Häuser und in die Querstraßen. Noch einmal bäumt sich beim Abbau das tätige Leben des Tages auf. Danach tritt eine gespannte Ruhe ein: Es ist, als ob das Viertel seinen täglichen kleinen Tod stirbt, eine verhaltene Melancholie zieht über die Straßen hinweg, ohne Bitterkeit, sondern mit der Erwartung auf ein anderes Leben im folgenden Tagesabschnitt. Die Vorbereitung darauf oder die Bewältigung des Übergangs von dem einen Zustand in den anderen erfolgt wohl bei den meisten durch Nahrungsaufnahme, zu Hause oder in einem Lokal. Ein solches findet sich in einer Straße in der Nähe des Marktes: Einige primitive Tische, kahle Wände, man bekommt Innereien oder Zuppa di cozze (Meeresfrüchte und Muscheln auf vom Sud durchweichtem Brot), hervorragend, ohne Schnörkel und in ungeahnten Mengen. Um 13 Uhr sind noch kaum Gäste da; man muß eine geraume Weile auf das Essen warten, bis alles zubereitet ist.
Hüttner beschreibt seinen ersten Besuch dort: "Ein großes Pappschild mit der Aufschrift 'Zuppa di cozze' hängt an einem Lokal in der Via Nazionale, kurz vor der Piazza Nazionale auf der rechten Seite. Im kleinen Schaufenster unter dem Schriftzug 'Alla Vera Napoli' hängen Kutteln, ständig von oben mit Wasser bespült (Kühlung durch Verdunstungskälte). Verziert ist das Fenster mit einer Reihe Plastikzitronen, ein Haufen echter Zitronen liegt auf dem Marmorsockel, auf dem die Vitrine mit den Kutteln steht. Der Innenraum wirkt kahl und leer, Boden und Wände sind aus geschliffenem Stein, Tische und Stühle einfach; ein Heiligenbild mit blauer Neonumrandung ist der einzige Wandschmuck. Es gibt zwei Gerichte: die Innereien aus dem Schaufenster und Zuppa di cozze".
Schaut man nach 15 Uhr vorbei, ist der Laden voll; vermutlich essen dort Händler vom Markt, Ladeninhaber, Mechaniker, solche, die nicht im Viertel wohnen. Später wird das Lokal geschlossen und erst am Abend wieder geöffnet. Auch die Läden und Werkstätten schließen, das gesamte Areal verwandelt sich in ein ruhiges, gewöhnliches Wohnviertel.
Die ursprünglichen Gebäude des Vasto sind bis auf wenige Ausnahmen große vier- bis fünfgeschossige Stadthäuser aus der Gründerzeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Obwohl nach einer einheitlichen Planung angelegt, weisen sie unterschiedliche Fassadengestaltungen auf. Alle haben einen Innenhof, wobei auch hier Größe und Form variieren. Diese Innenhöfe sind ein traditionelles Element mediterraner Architektur und gehen auf das Atriumhaus zurück. Es handelt sich also nicht um den Typus einer Blockbebauung mit gestaffelten Innenhöfen, wie wir sie aus dieser Zeit in den Städten Nordeuropas kennen. Die Altstadthäuser Neapels haben ebenfalls Innenhöfe, wenn auch, je nach Viertel, beengter und in kleineren Maßstäben. An den Grundrissen der Wohnhäuser im Vasto wird das Bemühen der Planer erkennbar, einen lichten und dennoch schattigen Innenraum zu schaffen, der im Verhältnis zu den für die damalige Zeit recht breiten Straßen des Viertels eine ruhigere, privatere Zone herstellt. Dies zeigt sich schon beim flüchtigen Augenschein: Betritt man durch das große Eingangsportal das Gebäude und durchquert beherzt den Zugang zum Hof, der als Schwellenbereich, als eine Übergangszone vom öffentlichen Raum der Straße in den halböffentlichen Bereich des Hofes gelten kann, befindet man sich im Innenhof an einem Ort der Stille und der Abgeschlossenheit. Sogleich beschleicht einen das Gefühl, in einen privaten Bereich eingedrungen zu sein, unabhängig davon, ob dieser mit Schuppen oder Garagen verstellt ist oder liebevoll bepflanzt und gepflegt.
Hüttner berichtet von einem Haus, in dem sich die einzige Kunstgalerie im Vasto befindet: "Der Hof ist vollgestellt mit Pflanzentöpfen. Alles sieht sauber und gepflegt aus. Viele Wäscheleinen hängen kreuz und quer. Am Hauseingang sitzt ein portiere, der sich sagen läßt, wohin man will. Im Hof gibt es mehrere große Hauseingänge. Zur Galerie kann man einen Aufzug benutzen, der kostet fünf Cents. Das Treppenhaus ist sauber, weiß gestrichen und weiter nicht ausgestaltet, kein Stuck, nichts; die Fenster zum Hof sind geöffnet ... Dieser Häuserblock hat wohl noch einiges von den bürgerlichen Gepflogenheiten des Vasto aus früherer Zeit."
In einigen dieser Höfe befindet sich in der Sichtachse des Hausdurchgangs ein den Zugang zum Innenhof dominierender Marienaltar mit Kerzen oder ein Christusbild. Bilder der Maria, von Jesus oder Heiligen beziehungsweise deren Statuen findet man an einigen Stellen des Viertels auch an den Außenfassaden der Häuser zu ebener Erde. Manche sind zurückhaltend und bescheiden, während andere durchaus repräsentativen Charakter haben. Sie sollen wohl von der Stellung und dem Wohlstand des Hausbesitzers oder Ladeninhabers Zeugnis ablegen. Sehr beliebt sind dementsprechend großdimensionierte Glasvitrinen mit Aluminiumrahmen, in denen der Heilige oder die Muttergottes wie eine Puppe im Schaufenster steht. Derartige Statuen bringen Modeboutiquen besonders gut zur Geltung, weshalb ein solcher Kasten an einer Fassade zwischen die Schaufenster eines Geschäfts für Damenmode gestellt wurde. Ähnliche Modelle finden sich übrigens auch an den Grabmälern im modernen Teil des Cimitero Monumentale, wo am Sonntag gern junge Männer mit der Freundin auf dem Rücksitz des motorino die Oma oder den Opa besuchen.
Eine typisch neapolitanische Einrichtung sind die bassi. Das sind kleine Wohnungen mit ein bis zwei Räumen im Erdgeschoß, mit separatem Eingang direkt von der Straße her und in der Regel mit nur einem Fenster zur Gasse oder zur Straße hin. Tür und Fenster werden mit Holzläden verriegelt, wenn die Bewohner länger abwesend sind. Die dunklen Wohnungen - manche sprechen von Löchern - gehören zum Bild der Altstadt Neapels und waren dort die Wohnungen armer Leute. Sie sind es zum Teil heute noch. Daß sie im Vasto auftauchen ist erstaunlich, allerdings wurden sie hier später, in der Regel als Hausmeisterwohnungen, eingebaut. Wie heute manchmal auch schon in den alten Vierteln der Innenstadt machen sie im Vasto einen eher gepflegten Eindruck; da und dort wurden Umbauten oder terrassenförmige Konstruktionen davor angebracht, und in einigen Fällen ist der Anteil des Basso an der Fassade des Gebäudes mit viel Sorgfalt dekoriert. Statt mit Gartenzwergen wie bei uns wird der "Vorgarten" neapolitanischer Art gern mit Marien- oder Christusbildern geschmückt.
Wir haben uns fast ausschließlich mit dem Außenraum, dem öffentlichen Bereich des Vasto beschäftigt. Hüttner besuchte jedoch einen Freund, der im Vasto bei der Großmutter wohnt. Er berichtet: "Man betritt die Wohnung und befindet sich in einem kleinen Zimmer mit Sesseln; von dort kommt man in einen schmalen Gang. Gegenüber geht es in die Küche, von da auf die Terrasse. Weiter vorn im Flur geht man links ins Bad, danach ebenfalls auf der linken Seite in Giulianos Zimmer mit Blick in den Innenhof. Rechts gegenüber befindet sich ein Wohnzimmer, das Giuliano auch zum Studieren benutzt, hinten links das Schlafzimmer der Großmutter mit Doppelbett und einem alten Kirschbaumschrank mit Intarsien. Das letzte Zimmer rechts dient für diverse Hausarbeiten wie Bügeln und ähnliches. Alle Räume auf der rechten Seite des Ganges haben Türen zur Terrasse, die breit und mit Pflanzen überwachsen ist, die Zimmer auf der linken Seite Fenster zum Innenhof."
Hüttner beschreibt weiter Aussicht und Umgebung von dieser Wohnung: "Gegenüber der Terrasse ragen die Gebäude des Centro Direzionale auf, links die beiden WIND-Wolkenkratzer, direkt gegenüber die Häuser zwischen WIND und Corso Meridionale, die auch ziemlich hoch sind. Es gibt eine Schneise, durch die man über den Mercato Ortofrutticolo bis zum Rione Luzzati in der Ferne sieht. Linkerhand kann man die Piazza Salerno sehen, den Übergang vom Vasto in den Centro Direzionale. Blickt man nach unten, schaut man auf das große Dach des FIAT-Ausstellungs- und Verkaufsgebäudes, das nach Aussage der Oma schon immer da war, das heißt also seit mindestens vierzig Jahren, denn so lange wohnt sie schon hier."
Hüttner gerät ins Schwärmen: "Heute ist ein klarer, sonniger Tag. Rechts hinter dem Centro Direzionale steigen die dicht bebauten Hänge des Vesuv erst sacht, dann steiler bis zum Krater an; der Bergwald ist gut zu sehen. Weiter rechts erstreckt sich die Stadt, ganz nah der Hafen, sogar mit Blick auf ein Stück Meer. In der Ferne die ganze Halbinsel von Sorrent bis Massa Lubrense, nur noch als blaue Bergkette erkennbar. Insgesamt ein wahnsinniger Blick!"
Hüttner schwelgt: "Um 14 Uhr gibt es Mittagessen auf der Terrasse. Pranzo in campania, ein kleiner Scherz der Hausfrau wegen des Pflanzendachs auf der Terrasse. Ich bin begeistert und finde wieder einmal, daß die ganze Situation mit dem Centro Direzionale nicht übel gebrochen wird. Zum Essen: Come primo, irgendwelche Nudeln mit Zucchinisugo, danach Kartoffelauflauf, dann Provola, dann Kirschen und Kaffee - das ganze Programm. Ich konnte kaum mehr aufstehen, aber gut war es schon. Omamäßig halt."
Eine alltägliche Szene: 13 Uhr, Schüler stürmen in Scharen eine der Schule gegenüberliegende kleine Kaffeebar, um die in allen Farben Signale aussendenden Süßigkeiten zu ergattern. Die Kinder sind mehrheitlich übergewichtig bis fett - ein auch in Italien zu beobachtendes Phänomen. Es greift wie eine Volksseuche um sich, eine Epidemie, die jetzt vor allem die unteren Schichten erfaßt. Früher war Fettleibigkeit in Süditalien ein Privileg von Kindern aus wohlhabenden Kreisen.
Ein dicklicher Junge, (noch) nicht einer der dicksten, steht an der Kasse und bezahlt sein zusammengerafftes Süßzeug, ist aber bereits nicht mehr bei der Sache. Die aufgetakelte Matrone hinter der Kasse vom Typus einer alternden Puffmutter, die auch schon schwerere Jungs gesehen hat, legt ihm das Rückgeld hin. Der Junge ist nicht in der Lage, sich auch nur einen Moment lang darauf zu konzentrieren. Mit unstetem, beinahe flackerndem Blick schweifen seine Augen über weitere, grell leuchtende süße Verheißungen. Er wirkt wie gedopt. Die Frau raunzt ihn an, er solle sich mit dem vor ihm liegenden Geld befassen. Statt dessen bleibt sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde an einem leuchtend roten Lolli hängen, das Händchen zuckt kurz in die Luft und schon springt das Auge auf einen blauen Süßteufel zur anderen Seite hin. Die erblondete Verblühte läßt ihre heisere Stimme ungeduldig anschwellen und schiebt ihm mit abrupten, heftigen Bewegungen die Münzen über den Tisch hin. Das Kind bewegt tonlos die Lippen, dann geht ein Ruck durch den kleinen massigen Körper, die Hand drängt fahrig, wie zufällig, in die ausgestellten Schätze und ergreift begierig eines der ersehnten Objekte, ohne jedoch das schweifende Auge von den anderen zu lassen. Die Kassiererin zieht den neuen Betrag vom Rückgeld ab, stößt dem Jungen den Rest noch einmal verächtlich hin und wendet sich entnervt ab. Dieser nimmt das Geld, ohne es anzuschauen, und macht sich mit einem langen Blick über die zurückbleibenden Süßigkeiten davon.
Die Szene dauerte kaum eine Minute und wiederholt sich vermutlich vor Schulbeginn und nach Schulschluß täglich Dutzende Male mit wechselnden Akteuren - hier wie anderswo.
Der Corso Giuseppe Garibaldi bildet die Westgrenze des Vasto, eine zwei Kilometer lange, schnurgerade Nord-Süd-Achse, die das Zentrum der Stadt von seinen östlichen Vierteln trennt. Sie führt von Norden her über die Piazza Principe Umberto, die Piazza Garibaldi - das ist die riesige Fläche des Bahnhofsplatzes -, vorbei an der Stazione Vesuviana nach Süden zum Hafen. Blickt man von ihrem nördlichen Ausgangspunkt auf der Piazza Carlo III mit dem gewaltigen historischen Gebäude des Albergo dei Poveri im Rücken nach Süden, kann man in der Ferne einen Ausschnitt der Hafenanlagen Neapels erkennen.
Die Piazza Principe Umberto ist ein Platz von eher bescheidenen Ausmaßen. Er hat trotz des starken Durchgangsverkehrs auf dem Corso Garibaldi, der ihn in zwei Hälften teilt, beinahe etwas Intimes. Unterstrichen wird dieser Eindruck von dem, wenn auch mageren, Baumbestand, dem sich Baumreihen zu beiden Seiten der Via Firenze nach Osten wie die Miniaturanlage einer Allee anschließen. Die Piazza Principe Umberto ist ein Westeingang zum Vasto, sozusagen eine Tür zum Viertel. Hüttner hat beschlossen: "An der Bar Tico beginnt der Vasto." Diese kleine Espressobar liegt auf der südlichen Ecke der Via Firenze zur Piazza Principe Umberto. Ihre Bedeutung als Sesam-öffne-dich verdiente sie sich vermutlich dadurch, daß wir dort vor Betreten des Viertels bei unseren täglichen Streifzügen öfter den ersten Espresso zu uns nahmen. Da fanden dann auch die den Tag einleitenden Gespräche über das Gebiet statt, das uns für eine Weile zum Nabel der Welt wurde: Vasto. Der Platz schließt jenen stark von Asiaten und Afrikanern geprägten und mit seinen Aktivitäten auf den großen Bahnhofsplatz ausgerichteten Teil des westlichen Vasto ab. Obwohl von der Piazza Principe Umberto nach Westen zum Stadtzentrum hin noch einige Straßenzüge mit ähnlichen Wohnhäusern wie im Vasto anschließen, ist dort durch die Straßenführung und die zunehmende Verdichtung der Bebauung die Orientierung zu den älteren Teilen der Stadt unverkennbar. Dennoch gibt es an dieser Stelle so etwas wie eine Übergangszone.
Das Gegenstück zur Piazza Principe Umberto im Westen ist im Osten die Piazza Salerno, der Ostein- oder -ausgang des Vasto am Übergang zum modernen Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum, dem Centro Direzionale. Der orthogonalen Planung des Vasto aus dem ausgehenden 19. Jahrhunderts schließt sich die des Centro Direzionale im ausgehenden 20. Jahrhundert an. Aber sie haben nichts miteinander zu tun, die Bruchstelle ist ästhetisch wie funktional kraß. Da sind auch ein paar bedauernswerte Bäumchen auf einer Verkehrsinsel der Piazza Salerno und eine trostlose Pizzeria nicht imstande, eine Versöhnung herbeizuführen. Auch nicht der traurige Witz von einem Elektronikgeschäft daneben, das genau gegenüber den zwei WIND-Towers Artikel von WIND verkauft.
Die beiden eine säkulare Spanne veranschaulichenden Planungen kommunizieren nicht miteinander, obgleich mit dem Westzugang zum Centro Direzionale an der Piazza Salerno der Versuch unternommen wurde, eine Öffnung zur Stadt herzustellen. Der Versuch ist mißlungen. Noch nicht einmal eine überzeugende Brechung ist dabei herausgekommen, sondern nur ein hilfloser Wirrwar an betonierten Durchgangsflächen, undefinierbaren Rampen, Einbauten und zufälligen Begrenzungen. Der Blick von oben, von einer schön bepflanzten Terrasse des Vasto mit Aussicht auf den Vesuv, bei einem üppigen Mittagsmahl, kann freilich korrumpieren. Doch der Vasto kehrt dem neuen Zentrum entschieden den Rücken zu
Immerhin war Hüttners Refugium in der Nähe. Er schreibt: "Die Bar an der Ecke in der Via Rimini ist dem Centro Direzionale abgewandt und gehört, wenn man über Grenzen spricht, klar zum Vasto. Sie ist mir in bester Erinnerung, an Regentagen wie bei Kälte. Als der Vesuv schneebedeckt war, gab's heißen Tee, bei wolkenlosem Junihimmel caffè freddo. Die Bar hat Nachmittagssonne und ist innen hell, trotz der Markise, die sich über den Gehsteig spannt. Die angestellten Barfrauen kommen aus Osteuropa."
Die Piazza Salerno hat sich nie zu einem geschlossenen Platz ausgewachsen; sie blieb immer nur Hälfte. Auf alten Luftbildern kann man erkennen, daß die das Viertel im Osten von Norden nach Süden abschließende breite Via Giovanni Porzio, die heute unter der Rampe des Centro Direzionale hindurchführt, den Platz einfach abschnitt. Von dort ging es früher aufs freie Feld hinaus, später auf ein Areal, das zum Teil mit Fabrikgebäuden überbaut war, und mittlerweile auf die 700 Meter lange Plattform des Centro Direzionale, die im Osten noch abrupter endet als im Westen an der Grenze zum Vasto: mit provisorischen Sichtblenden aus Beton. Darunter verläuft, wiederum in nord-südlicher Richtung, eine Straße, die den Centro Direzionale vom Gemüsegroßmarkt Neapels abtrennt, von der, rechtwinklig abzweigend, unterirdische Straßenzüge unter dem Centro durchführen. Hüttner berichtet von seinen Fahrradfahrten im Osten: "Durch diese hohle Gasse muß irgendwer kommen; in der Regel Autos, die in die unterirdischen Straßenzüge des Centro Direzionale wollen, um an der Piazza Salerno wieder herauszukommen. Rollos und glatte Rückfassaden trennen das Ganze ab. Der Centro ist nach Osten hin einfach zugenagelt; es gibt keine Verbindung, dafür einen architektonischen Scherz: Da unten befindet sich die Garageneinfahrt eines Holiday Inn und daneben der verglaste, aufwendig gestaltete Hoteleingang zwischen Beton und Stacheldraht. In dieses Hotel gehen Geschäftsleute, die mit der Stadt nichts zu tun haben wollen." Und im Gemüsegroßmarkt, dem Mercato Ortofrutticolo, "tobt im Gegensatz zum Centro Direzionale natürlich das Leben. Aber es handelt sich um zwei voneinander getrennte Bereiche. Man muß schon von da nach dort wollen und den fast unmöglichen Weg machen." Das Leben dort unten tobt sich offenbar nicht nur an Gemüse- und Obstkisten oder dem Be- und Entladen von Lastwagen aus, denn Hüttner registriert noch im Vorbeifahren: "Am rechten Straßenrand stand einsam eine Nutte, sehr schlank mit knallrot geschminktem Mund." Und einige Tage später: "Am Mercato Ortofrutticolo vorbei grüßte mich heute die Nutte mit dem rot geschminkten Mund; diesmal war ich überrascht."
Einer der markantesten Grenzorte des Vasto ist zweifellos die große, repräsentative, einstmals begrünte Piazza Nazionale im Norden des äußeren Vasto am Ende der Via Nazionale. Heute ist sie eine Dauerbaustelle, unter deren derzeit aufgerissener Oberfläche eine Tiefgarage entstehen soll. Es bewegte sich in einem Zeitraum von sechs Monaten nicht viel. Die große Fläche in der Mitte des Platzes ist mit einem Maschendrahtzaun abgesperrt, die Straßenbahn nach Poggioreale rumpelt darum herum, daneben quält sich unablässig der Autoverkehr über die schadhafte Fahrbahn. Der Platz ist von großen Wohnblöcken umstanden, die für den Vasto typisch sind und hier dank der langen freien Sichtachsen von der Via Casanova und der Via Nuova Poggioreale aus besonders gut zur Geltung kommen. An die Piazza Nazionale schließt im Norden das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaute Viertel Arenaccia an. Nördlich an der Piazza Nazionale vorbei nach Osten verliefen früher die Gleise einer Vorortbahn nach Nola und Baiano, deren Endbahnhof sich an der Kreuzung Via Casanova-Corso Garibaldi befand. Das heute recht heruntergekommene Gebäude steht noch.
Überhaupt, die Eisenbahnen! Neapel - und vor allem auch der Osten Neapels - muß ein Eldorado für Eisenbahnhistoriker sein. Eisenbahnlinien umspielten den Vasto einst im Norden, Osten und Süden wie die Schlangen das Haupt der Medusa. Die erste Bahn durchschnitt in einer straffen Diagonale vom Bahnhof aus das Gelände des heutigen Centro Direzionale nach Nordosten. Sie war bereits wieder stillgelegt, als die Planung des Vasto begann. Die erste Bahnlinie Neapel-Foggia führte vom Bahnhof in einer scharfen Linkskurve nach Norden unter die heutige Mittelachse des Centro Direzionale bei der Piazza Aldo Moro, schnitt knapp den Frauentrakt des Gefängnisses an, machte dann nördlich der Via Nuova Poggioreale einen Schwenk nach Osten - man kann das auf dem Stadtplan immer noch an einer gebogenen Straßenführung erkennen -, tauchte unter dem Friedhof von Poggioreale hindurch und suchte das Weite Richtung Foggia. Unter dem Centro Direzionale müssen heute noch Bahnlinien verlaufen. Auf der Plattform des Centro ist sogar eine Haltestelle ausgeschildert, die allerdings nicht zugänglich ist; die Abgänge sind versperrt. Später wurde der Durchstich unter dem Friedhof still-, die Linien nach Foggia, Rom oder Brindisi zusammengelegt und etwas weiter südlich, neben der oben erwähnten Vorortbahn nach Nola-Baiano und parallel zur Via Nuova Poggioreale, aus der Stadt herausgeführt. In einem nächsten Schritt wurden die Gleisanlagen um gut einen Kilometer, beinahe parallel zu der bestehenden Linie, nach Osten verschoben, so daß sie jetzt elegant um den Rangierbahnhof von Neapel, Napoli Smistamento, herumschwingen, sich am Südfuß des Friedhofhügels von Poggioreale mit den älteren Linien kurz vereinigen, um dann in verschiedene Richtung auseinanderzulaufen. Dazwischen, im Osten und Süden, überall noch Industrie- und Abstellgleise, die ihre arabesken Figuren ins Gelände zeichnen. Ein wahres Ballett der Eisenbahnstränge!
Vom Mercato kommend, einem sonntäglichen Billigmarkt auf offener Fläche im vorstädtischen Gewerbegebiet nach Poggioreale hin, schwenke ich auf das Gelände des Centro Direzionale ein mit der Erwartung, daß diese postmoderne Dienstleistungs- und Verwaltungswüste an einem Sonntagnachmittag leer wäre. Weit gefehlt! Schon beim Betreten der Betonflächen, just gegenüber der südlichen Gefängnismauer, treffe ich auf korrekt, aber bieder und wenig italienisch gekleidete Menschen, denen ein Betonsockel, auf dem Essen und Getränke stehen, als Büffet dient. Aus einem Radiorecorder ertönt Musik, nach der die dort Versammelten paarweise langsamen Foxtrott tanzen. Es ist russische Schlagermusik, die Tanzenden sind alle Russen, die Frauen lebhaft bis ausgelassen, die Männer todtraurig. Auf der Mittelachse des Centro Direzionale begegne ich noch mehr Russen, in der Mehrheit Russinnen, alle mit Picknick oder Zeitunglesen beschäftigt oder im Gespräch, reichlich bepackt mit Plastiktüten, offensichtlich Einkäufe von den umliegenden Billigmärkten. Sie sind unverkennbar, fallen als Russen auf, nicht einfach nur als Ausländer. Was machen sie hier, woher kommen sie, wohin gehen sie? Was führt sie ausgerechnet auf diese unwirtliche Betonfläche in Süditalien, um dort Muße zu halten? Die Erinnerung an die sozialistische Moderne im eigenen Land, ein Heimatgefühl? Auch in der Stazione Centrale, dem Hauptbahnhof von Neapel, halten sich am späteren Sonntagnachmittag fast mehr Russen auf als Afrikaner, Asiaten oder Einheimische, noch bis in die Metro trifft man auf russische Frauen. Normale russische Bürgerinnen, weder besonders schlecht noch besonders gut gekleidet.
Ein halbes Jahr später: Noch immer sind Russen da. An einem Sonntagnachmittag fiel mein Blick in der Metro zufällig auf ein Buch mit kyrillischer Schrift, da kamen mir die Russen vom Centro Direzionale in den Sinn. Ich wollte nachschauen, ob "es wieder Russen gibt". Es gibt sie noch. Wie vor einem halben Jahr sitzen sie in Grüppchen oder vereinzelt auf der Fläche des Centro Direzionale herum, und wieder - oder immer noch - sind es mehrheitlich Frauen, beladen mit Plastiktüten von den Märkten. Neapolitaner halten sich an einem Sonntag dort nicht auf, die sind in Massen im Park an der Riviera di Chiaia, woher auch ich kam. Schon in der Metro konnte ich in einem entgegenkommenden Zug Russinnen ausmachen; man erkennt sie leicht, ist die Aufmerksamkeit erst einmal geweckt, an Kleidern und Habitus. Ich will nicht wissen, wie sie hierhergekommen sind und weshalb sie hier sind. Die Russen von Neapel sollen ein Rätsel bleiben.
Der Centro Direzionale verblüfft auf den ersten Blick. Man ist beeindruckt von der Gigantomanie, von den Sichtachsen und der himmelstürmenden Plötzlichkeit der Glas- und Betonfassaden - eine große, weitausholende Geste, das in Beton gegossene postmoderne Fanal der rhetorischen Phrase eines bürokratischen Führungswillens. Oder die Fratze des Systems. Bleibt der Blick am Einzelnen hängen, wird man ob der Schäbigkeit des Materials und der Verarbeitung schnell in die Wirklichkeit und auf den Boden Neapels zurückgeholt. Auch die eintönige Reihung der Formelemente und Dekorverblendungen erschließt sich in Kürze.
Bei wiederholter Begegnung präsentiert sich die Anlage bald in ihrer ganzen Lächerlichkeit. Aufzüge, die wie Kellerasseln an gläsernen Außenfassaden hoch- und niederfahren - Ferraris der Vertikalen oder ein Futurismo verticale - sprechen den nationalen Spieltrieb an. Die einzelnen Formelemente verweisen folgerichtig auf den Legobaukasten im Kinderzimmer. Hier wurde einmal mehr Architektur im Großen und Ganzen entworfen, einzig in Hinblick und in der Erwartung auf ihre unmittelbare Wirkung durch Größe, Fläche und Wiederholung.
Trefflich illustriert wird die ridiküle Unangemessenheit durch den unvermittelten Abbruch im Osten, wo man zwischen provisorisch aufgestellten Betonsichtblenden auf ein chaotisches Gelände von Lagerhallen und Eisenbahnanlagen blickt. Die ganze Pracht stürzt hier in den alten städtischen Gemüsegroßmarkt ab - Mercato Ortofrutticolo. Hüttner, inmitten von zermatschtem, auf dem Boden zertretenem und überfahrenem Gemüse und Obst, berichtet von dort unten: "Was runterfällt, tritt sich im wahrsten Sinn des Wortes fest." - Eine Metapher? Beim Centro Direzionale stellt sich kaum der Eindruck eines noch im Werden begriffenen unfertigen Zustands ein, vielmehr der eines nachhaltigen Provisoriums. Die Konfrontation der pathetisch auftretenden, gestikulierenden Bauform mit dem zum Abbruch Vorgesehenen, das eigentlich schon nicht mehr stehen sollte, aber vermutlich noch lange weiterbestehen wird, ist die angemessene parodistische Veranschaulichung für die Nähe des Erhabenen und des Lächerlichen.
Zwischen dem Vasto und dem Centro Direzionale gibt es eine ideologische Kontinuität; sie liegt im Kontinuum des Politischen vom Nationalen zum Konstitutionellen, mithin in der Dominanz des Staatlichen. Die Semantik des Vasto wird beherrscht vom Willen zur Einheit des jungen Nationalstaats, während man sich für den Centro Direzionale auf abstraktere Begriffe wie Verfassung (Via della Costituzione) oder auf Namen italienischer Politiker und Personen der republikanischen Öffentlichkeit beruft. Hier geht es um die Allgegenwart der Staatsbürokratie, auch wenn es sich um Namen von Personen handelt: Sie stehen für Verwaltungsepochen oder -episoden. Bei den großen Gebäudekomplexen beschränkte man sich auf wenig aussagekräftige, abstrakte Bezeichnungen von Isola A bis Isola G im Gegenuhrzeigersinn ihrer Anlage. Vielsagender ist vielleicht der Befund, daß die aufbetonierten Plätze und amphitheatralischen Auswucherungen auf der Via della Costituzione von Westen nach Osten der Reihe nach mit den Namen Piazza Alcide De Gasperi, Pietro Nenni, Aldo Moro, Palmiro Togliatti, Luigi Einaudi bedacht wurden. Bleibt abzuwarten, ob der nächste Betonwulst wegen der besonderen Verdienste dieses Politikers um die italienische Verfassung Piazza Berlusconi heißen wird, falls es jemals zu einer Erweiterung nach Osten kommt.
Stand im späteren 19. Jahrhundert die Bedeutung der nationalen Einheit im Vordergrund und schlug sich in der Toponymik der urbanen Planung nieder, so werden am Ende des 20. Jahrhunderts Personennamen und abstrakte Aufzählung (Nomenklatura und Alphabet) vorgezogen. Beide Viertel liefern damit einen Text zur staatlichen beziehungsweise gouverno-mentalen Geschichte Italiens. Mehr Anschaulichkeit kann man kaum verlangen! Fragt sich nur, wo das Leben bleibt. Im Vasto hat es sich erhalten. Dort gibt es Märkte, Läden, dort wird gewohnt und in bescheidenem Rahmen von Neapolitanern, Afrikanern, Asiaten auch produziert, Hehlerei und Schwarzmarkt betrieben, Tag und Nacht gelebt und gestorben. Im Centro Direzionale geht man als Beamter oder Angestellter zur Arbeit und danach wieder weg. Auch die Russen, die sich gelegentlich einfinden, haben dort nichts zu tun. Sie verleben einen Sonntagnachmittag auf der Fläche und verschwinden wieder, ohne daß sich ein Neapolitaner darum scherte, wohin. Sie hinterlassen keine Spuren, außer vielleicht, bevor die Putzkolonnen anrücken, einige Zeitungen in kyrillischer Schrift. Der Centro Direzionale ist ein Zentrum, das dirigiert, und wer weiß schon warum, wofür oder in welche Richtung. Möglicherweise wissen es auch die dort Beschäftigten nicht so genau. Sie kommen und gehen eben - und verdienen ihren Lebensunterhalt damit.
Anders im Vasto. Auch dort wird der Lebensunterhalt verdient, aber auf sehr unterschiedliche Weise: legal oder illegal, ob als Neapolitaner oder als Immigrant, ob armselig und elend oder betucht und mit Profit. Gewohnt wird hier allemal in Wohnungen, die ärmlich oder behaglicher ausgestattet sein mögen, in Häusern, in denen man Nachbarn hat, mit denen man sich versteht oder streitet - obgleich es keine Wäscheleinen über die Straßen gibt. Man sucht die Kaffeebars auf, von denen es Dutzende gibt, man kennt sich, wenn auch nicht durch das ganze Viertel, so doch im Straßenabschnitt, zumindest im Wohnhaus auf Grußnähe und manchmal besser. Die Möglichkeit nachbarschaftlicher Beziehungen ist vorhanden, wahrnehmen muß man sie nicht, wenn man nicht will. Darin liegt der Reiz städtischen Lebens, etwas, das im Centro Direzionale fehlt, weil dort nur Berufs- und fast durchweg nur Büroalltag stattfindet. Das heißt: Das sogenannte Leben in diesem gigantischen Dienstleistungs- und Verwaltungszentrum ist keineswegs urban, die Angestellten in den Büros gehen nach der Arbeit nach Hause. In die Stadt! Im Centro Direzionale kommt keine Stadt zustande.
Auch den Vasto verlassen viele Leute nach der Arbeit, um ihre Wohnungen in anderen, besseren oder schlechteren Vierteln aufzusuchen. Aber sie verlassen ein bewohntes Stadtviertel, mit dessen Bewohnern sie tagein, tagaus zu tun haben, von denen sie leben und nicht lassen können.
Wir streifen wie zwei Straßenköter immer wieder durch das Viertel, tauchen mal hier, mal dort auf. Vielleicht werden wir von den Bewohnern deshalb nicht weiter beachtet. Nur den Wächtern, die auf den Zinnen der Gefängnismauer Wache schoben, wurden wir ein Dorn im Auge. Sie beobachteten uns mit wachsendem Mißtrauen und Unwillen, dann sogar mit einer gewissen Panik beim Fotografieren der Gefängnismauer und der an das Gefängnis anschließenden Straßenabschnitte. Schließlich jagten sie uns mit Trillerpfeife und herrischer Geste zum Teufel.
Aber wie wurden wir von den Leuten im Viertel gesehen? Gewiß erkannten sie uns als die gleichen vom Vortag, wenn wir fotografierend durch das Viertel strichen. Sogar wir erkannten mitunter einzelne von ihnen wieder; doch auch die zeigten keine Reaktion. Wurde auf dem Markt, in manchen Wohnungen über uns gesprochen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, wie wir wahrgenommen wurden, und auch wir haben nur unsere Wahrnehmung von der äußeren Gestalt des Vasto mitgenommen. Was dort gesprochen, gedacht wird, wer mit wem sich, und sei es nur mit einem Satz, über uns ausgelassen hat, wird uns immer unbekannt bleiben. Wir fallen täglich in das Viertel ein, an dem für die Einheimischen nichts ungewöhnlich ist und die nicht einsehen - so meine Vermutung -, was daran sehenswert sein soll oder gar wert, fotografiert zu werden. Und dann verschwinden wir wieder. Zwei Gestalten, vielleicht kurz aus dem Augenwinkel wahrgenommen, über die bestenfalls eine beiläufige Bemerkung fällt, und die im nächsten Augenblick schon keine Bedeutung haben. Und wenn sie eines Tages nicht mehr auftauchen, wird auch das nicht bemerkt, weil sie bereits vergessen sind.
Oder hat der würdige alte Mann im grauen Anzug, der leicht gebeugt, auf seinen Stock gestützt vor der Kaffeebar steht, doch über uns gesprochen? Wir fotografieren das Lokal, er fühlt sich spürbar unbehaglich, er möchte sich der Zumutung entziehen. Trotzdem hält er die Stellung; es ist sein Platz.
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