Litfasssäule, Hamburg Ottensen, kuratiert von Philippe Van Cauteren - PROJEKT O1

Lesung: Walter Benjamin - Radiovorträge für Kinder, "Räuberbanden im alten Deutschland",
Hamburg Ottensen, 2004

Walter Benjamin

RÄUBERBANDEN IM ALTEN DEUTSCHLAND


Wenn die Räuber nichts anderes vor den übrigen Verbrechern voraus hätten, so blieben sie immer noch die vornehmsten unter allen, weil sie als einzige eine Geschichte haben. Die Geschichte der Räuberbanden ist ein Stück der Kulturgeschichte von Deutschland, ja von Europa überhaupt. Aber nicht nur, daß sie eine Geschichte haben, sondern, lange Zeit wenigstens, besaßen sie auch den Stolz und das Selbstbewußtsein eines Standes, der auf uralte Überlieferungen zurückblickt. Man kann nicht die Geschichte der Diebe oder der Betrüger oder der Mörder schreiben, das sind immer nur einzelne gewesen, allerhöchstem, daß sich das Diebeshandwerk einmal in einer Familie von dem Vater auf den Sohn vererbt haben mag. Mit den Räubern aber steht es ganz anders. Da hat es nicht nur große Räuberfamilien gegeben, die durch mehrere Geschlechter sich fortgepflanzt, durch ganze Landstriche sich verbreitet und, wie königliche Familien, Verbindungen untereinander geschlossen haben, nicht nur gab es einzelne Banden, die bis zu 50 Jahren fest zusammengehalten haben, dabei oft mehr als 100 Mitglieder hatten, sondern vor allem gab es alte Sitten und Gebräuche, eine eigene Sprache, das Rotwelsch, eigene Ehr- und Standesbegriffe, die sich alle jahrhundertelang unter den Räubern fortgeerbt haben...


Zitiert aus: Walter Benjamin, Nachträge, Gesammelte Schriften Band VII-1, Frankfurt a. M., Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1991, S. 152/153

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